Arme Magie
John Rafmans „Poor Magic“ beginnt mit dem Blick in Düsternis, in der geisterhaft blau fluoreszierende Skelette von zusammengekauerten Körpern aufsteigen; diesem komplementär gegenübersteht, nicht weniger bedrohlich, ein strahlend weißer Raum ohne Tiefe, eher ein Grund, in den einzelne Gliederpuppen hineinfallen. einer feucht glitzernden Röhre, vielleicht einer Luft- oder Speiseröhre, als Ausschnitt aus digital gerenderten Körperwelten, untermalt von freundlicher Musik. Die Öffnung der Röhre, durch die man „fährt“ mutet wie ein nicht-menschliches Auge an. Das „Hauptgeschehen“ spielt sich auf einer Ebene ab, deren zeitweise schachbrettartiger Untergrund zunächst zartgemasert lachsfarbenem Marmor nachempfunden scheint. Im Laufe des Videos wird diese Textur immer gröber und zeigt sich als aus fleischfarbenen Innereien, Gefäßen und Gedärmen „geflochten“.
Who’s afraid of spilled cheese?
In Stanya Kahns „Don’t Go Back To Sleep“ und Benjamin Nuels „Hotel“ (beide 2014) verarbeiten VertreterInnen spezifischer Berufsgruppen das Ende ihrer bekannten Welt. Es umgibt sie kulissenhafte Architektur: Bei Kahn eine aufgrund der Wirtschaftskrise nie fertiggestellte, unbewohnte Neubausiedlung in Missouri, bei Nuel ein verlassenes Hotel in modellierter Computerspielumgebung. Soldaten und Terroristen, jeweils als optisch identische Avatare uniformiert, warten im „Hotel“ gemeinsam auf ihre Kommandos und beginnen sich, zwischen Volleyballmatches, Kunsttherapie und dem Austausch von Auflaufrezepten, langsam vom erlernten Freund-Feind-Bild zu entwöhnen. Beim Erkunden des idyllischen Umlands stoßen sie vermehrt auf treibsandartige Auflösungen ihrer Umwelt, auf rechteckige Löcher im Himmel und im Erdboden. „Don’t Go Back To Sleep“ zeigt ÄrztInnen und PflegerInnen, gespielt von Laiendarstellern, beim Versuch, stetig neue, aus den eigenen Reihen plötzlich zusammenbrechende Verletzte zu versorgen. Badewannen und Billardtische werden auf Tauglichkeit als medizinisches Mobiliar hin inspiziert. Was die Verwundungen verursacht, bleibt unklar. Die Überforderung kapituliert in Partystimmung, aufgelockert durch den Schnaps, der parallel zum Betäuben der OP-Patienten dient.
Cosmos Ottinger
Ulrike Ottingers Kosmos ist von Vorsicht und Zurückhaltung ebenso weit entfernt wir von bloßer Aufmerksamkeitshascherei. Ihre Bildwelt ist drastisch, schafft es jedoch in den Verzerrungen und Übertreibungen ein Gefühl für die differenzierten Nuancen menschlicher Abgründe und Sehnsüchte zu vermitteln. In Ottingers Filmen begegnen uns zahllose so lustvoll wie grausam und verstörend erlebbare Phänomene – von als „Harpyien“ maskierten Hühnern über eine Inquisitoren-Karawane mit sich füllenden Krankenhausbetten bis zum „Beinhaus Europa“, wie eine der acht Episoden im „kleinen Welttheater“ heißt.
John Akomfrah
Aufgewachsen in Ghana und London und Mitbegründer des „Black Audio Film Collective“, spricht John Akomfrah in seinen Werken davon, wie Menschen sich bewegen und bewegt werden. Die Freiheit zur Zirkulation, so Akomfrah, werde in der heutigen Gesellschaft allem außer Menschen zugestanden. Waren, Daten, Ideologien – und natürlich Bilder. Akomfrah nutzt für seine Mehrkanal-Arbeiten neu produziertes wie Archivmaterial, um jene sicht- und hörbar zu machen, die bisher unsichtbar und stumm geblieben sind.
Leung Chi Wo
Das kontinuierliche Sammeln von Archivmaterial um das Jahr 1967 der Protestbewegung in Hongkong steht im Zentrum der Arbeit Leung Chi Wos. Von hier aus entstehen fotografische Serien und kinetische Installationen, die einen Drang der Objekte und Akteure zur Bewegung auszudrücken scheinen – wenn auch eingefroren oder im Loop befindlich.
Vaporwave – Kunst und Kritik im Techno-Kapitalismus
Als der britische Musikwissenschaftler, Blogger und Autor Adam Harper sich 2012 in einem Artikel für die Musikwebseite »Dummy« eines zu diesem Zeitpunkt noch weitestgehend unbekannten Internet-Kultur-Phänomens namens Vaporwave theoretisierend annahm, war er sich selbst nicht sicher, ob das, was er da sah und hörte, nun eine subtile Kritik der Lebensverhältnisse im Techno-Kapitalismus oder die Selbstaufgabe an ebenjenes Prinzip der digitalisierten Warenwerdung darstellte. Dementsprechend zögerlich fiel seine Antwort auf die von ihm formulierte Frage »Is it a critique of capitalism or a capitulation to it?« aus; sie lautete folgerichtig indifferent: »Both and neither«.
Mimi Ọnụọha
Mimi Ọnụọha spürt den „missing datasets“ unserer von Datenerhebungen und -auswertungen übersättigten Gesellschaft nach: in Installationen, Webseiten, Zines, Essays und Künstler:innenbüchern. Wie werden Menschen kategorisiert, sodass sie in ein größeres Ganzes passen oder aus dem System fallen und gar nicht erst berücksichtigt werden?
Immer die anderen
Bjørn Melhus kann sie alle. Dorothy und die Schlümpfe. Schulmädchen und Gouvernante. Elvis und Marilyn. Ob mit blonder Topffrisur oder kulleräugiger Robotermaske, in hautengem Ganzkörperanzug oder im Leichenhemd bereit zu Obduzierung – Bjørn Melhus brilliert unter all diesen Stimmen und Gesichtern, die in der Aneignung durcheinander geraten wie einmal durch den Thermomix püriert und angedickt zum neuen überraschenden Gericht. Zwischen der augenzwinkernden Kommentierung entleerend sich selbst inszenierender Formeln testet Melhus aus, wie weit die von ihm zitierten medialen Rollenbilder tragen, in welche Richtungen sie treiben und getrieben werden können. Ausgangsmaterial sind Filme, Serien und Shows vorwiegend US-amerikanischer Mainstream-Medien, die den Künstler selbst in seiner Kindheit und Jugend prägten.
Standbein, Spielbein, Arbeitsbein
oder: Wenn man versucht, mit allen drei Füßen gleichzeitig loszurennen
„Is this dance?“, fragt eine Videohommage Nam June Paiks an Marcel Duchamp und Merce Cunningham (Merce by Merce by Paik, 1978), während die Aufnahmen rhythmisch kreuzende Taxikolonnen im Großstadtlabyrinth oder ein an der scheinbaren Ziellosigkeit seiner Bewegungsanläufe sichtlich erfreutes Kleinkind zeigen. „Maybe. Why not?“, blinkt der Bildschirm weiter. Ein wenig kokett mit der Zustimmung der Zuschauer spielend, wirkt das fragende Vielleicht ganz unaufgeregt, verglichen mit dem oft bemüht wirkenden Rückgriff auf Begriffe aus der Wortfamilie des „Choreografischen“, wie er in Ausstellungen zeitgenössischer Kunst mitunter etwas überstrapaziert wird. Wird plötzlich jeder Gang der Besucher als ein durch die Anordnung „choreografierter“ beschrieben und damit zugleich als ein in bestimmter Weise verfasster vorweggenommen, sehnt man sich manchmal doch nach der soliden Museumsbank, von der aus man sitzt, schweigt und betrachtet.
Einmal zum Mitnehmen, mit Deckel drauf
Das nehmen wir mal mit – und machen einen Deckel drauf. Etwas sicher unter Verschluss zu halten und Probleme sanft ins diplomatische Hinterzimmer zu geleiten, gehört zum Einmaleins des Krisenmanagements. Was unter der Abdeckung weiter rumort, findet nicht selten seinen Weg in die Kunst – z. B. in die Werke der US-amerikanischen Malerin und Bildhauerin Nicole Eisenman, wo politisch aufgeladene Themen langsam anschwellende Abszesse bilden. Eisenman lässt aggressive Vögel und müde Adler, Flaggen und Anzugträger gemeinsam mit kunstgeschichtlichen Ahnen wie Marat in der Badewanne ihre Kreise durch die Farbmassen ziehen. Schwarze Kreise und Löcher durchsetzen Eisenmans Kunst: als Körperöffnungen, Duchamp’sche Gucklöcher, Augenhöhlen, Pistolenläufe, dicke Pipelines, aus denen Erdöl? – schwarze Galle? – Wimperntusche? – schießt.
Die metaphorischen Rohre, in denen emotionale, politische Energie, kreativ und aggressiv, strömt, lecken. Sie halten nicht dicht, entfalten dadurch aber produktives Potential.