Papier = Kunst 7, Neuer Kunstverein Aschaffenburg

Datieren auf 10.01.2011
Da ist sitzt er wieder, der Hase, vor dem Traktor im Angesicht des Todes. Das Motiv des Plakates zur Ausstellung „Papier = Kunst 7“ im Neuen Kunstverein Aschaffenburg begegnet dem Besucher gleich zu Beginn seines Rund-gangs. Andreas von Weizsäcker hat keinen Bauern abgeformt, der hinter dem Lenkrad sitzend den Traktor tatsäch-lich auf den Hasen zusteuern könnte. Man hat vielmehr das Gefühl, mit den Papierabformungen von Hase und Trak-tor säßen sich zwei ebenbürtige Wesen gegenüber – keine bedrohliche, aber sehr wohl eine ungewöhnliche Begeg-nung. Während hier trotz irritierender Leerstelle der Kontext innerhalb der landwirtschaftlichen Kuriosität gewahrt bleibt, beschäftigt sich zwei Räume weiter Bodo Korsig ebenfalls mit Abformungen, die er allerdings von Gegen-ständen nimmt, die in der Ausstellung ganz aus ihrem eigentlichen Zusammenhang isoliert sind. Auch hier lassen einzelne Exponate einen landwirtschaftlichen Bezug vermuten, doch findet man daneben Kanaldeckel sowie gänz-lich unidentifizierbare Objekte vor. Wie in einem unsichtbaren Koordinatensystem sind die rätselhaften Objekte auf dem Boden eher präzise angeordnet als ausgebreitet und erhalten so einen beinahe mystischen Charakter.
Im zweiten Stock betritt man Frank Rothfuss‘ Weltinnenraum, dessen Herzstück ein Regal mit Einmachgläsern dar-stellt, die mit Namen bekannter Künstler beschriftet sind und Abbildungen von deren Werken enthalten. Das bunte Sammelsurium aus eingewecktem Kunstmarkt, dekorativ in den Raumecken platzierten Ostereiern, die mit den aus-gerissenen Seiten gängiger Kunstmagazine beklebt sind, und den Möbelstücken aus Küchenpapierrollen (bei deren Anblick sich die Assoziation zu Toilettenpapierrollen auch unter gesteigerter Anstrengung nicht unterdrücken lässt) zeugt von Humor. Ob die Einzelbestandteile innerhalb einer bestimmten Metaphorik zu lesen sind und wie sich diese innerhalb des Weltinnenraums zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügen lassen, bleibt indes mehr als offen, der Rilke-Bezug erschließt sich weder bei ernsthafter noch bei ironisierender Auslegung des Titels. Im nächsten Raum steigert sich der Effekt der Reizüberflutung weiter: Roswitha Berger-Gentsch arbeitet gern und viel mit buntem Verpackungsmaterial, das sie zerstückelt, neu zu Mosaiken zusammensetzt oder auch mit Goldfäden durchwirkt. So entstehen inhaltlich amüsante und optisch faszinierende Objekte, wie aus Papier gewebte Salamiblü-ten oder ein Wandfries aus Glühweinkartons, in dem vom Zentrum ausgehende goldene Kreise beinahe hypnotische Wirkung entfalten. Sie tun dies deshalb nur beinahe, weil die viel zu dichte Hängung der Arbeiten keinerlei Konzen-tration auf die Einzelheiten dieser unfreiwilligen Rauminstallation zulässt.
Angenehm farblos und dabei mindestens ebenso raumfüllend zeigen sich dagegen Charlotte McGowan-Griffins von der Decke bis zum Boden reichende „Cuts“, die die Künstlerin wie blickdurchlässige Raumteiler einsetzt. Die Papier-bahnen ziehen sich entlang dreier Achsen von einer Wand zur anderen und erinnern dabei teils an aufgeschlitzte Haut – die des weißen Pottwals? – teils an mutierte Urwaldgewächse. Die organische Form verdankt sich hierbei der Eigen-willigkeit des Papiers, das sich immer wieder von selbst aufrollt, so dass durch die Einschnitte tatsächlich skelettartig eingefasste Zwischenräume entstehen. Die Kombination von gedämpftem Tageslicht durch abgehängte Fenster und direkte Beleuchtung mittels Scheinwerfern lässt den Raum in unterschiedlichen Graustufen schimmern und dadurch verwunschene Atmosphäre. Auch Oskar Holwecks unaufdringliche Arbeiten aus Transparentpapier, in das feinste Strukturen geritzt sind, besit-zen – wenn auch um einiges kleinformatiger – diese subtile Haptik und Dreidimensionalität.
Sabrina Hohmanns Arbeiten wiederum gehören, ebenso wie die Collagen Ingrid Habels, die im Erdgeschoss Caféte-ria und Gang füllen, zu den „zweidimensionaleren“ Arbeiten der Ausstellung. Die zeichnerische Umsetzung von ge-faltetem, umherflatterndem Papier auf Papier deutet bei Hohmann eine Art Auseinandersetzung auf Metaebene an. Allerdings lässt die direkte Gegenüberstellung mit einer weiteren Abformung von Weizsäckers, nämlich einer den Gesetzen der Schwerkraft entgleitenden Büroausstattung, die ihr Chaos über Boden und Wände verteilt, die gerahm-ten Blätter allzu gehorsam und illustrierend wirken.
Interessant wird es, sobald das Papier seine „Identität“ verleugnet: Sowohl Angela Glajcar als auch Ole Müller sta-peln Papier. In beiden Fällen ist die Schwere des Papiers eine mehr als nur suggerierte. Während die Arbeiten Glaj-cars jedoch die brüchige Konsistenz eines von Termiten befallenen Holzblocks annehmen, sind die Oberflächen bei Müller von solcher Glätte, dass man glaubt, es mit Stein oder Kunststoff zu tun zu haben. In einem bewusst undurch-sichtig gehaltenen Verfahren presst der Künstler paketweise Zeitschriften, um sie anschließend zu versiegeln. Die aus diesem Prozess resultierenden Wandobjekte erinnern durch ihre spiegelglatten Oberflächen an glasierte Keramik oder großformatige Magic Eye-Prints und steigern den ursprünglichen – ästhetischen wie materiellen – Wert der auf dünnem Papier gedruckten Magazine somit erheblich. In reizvollem Kontrast dazu stehen die im gleichen Raum ge-zeigten Abformungen von Weizsäckers, die „handgemachter“ erscheinen und mit den gelblichen Verfärbungen des weißen Papiers ihre eigene Vergänglichkeit zur Schau stellen.
Dass abgesehen von zwei Ausnahmen jeder Künstler seine eigene, klar umgrenzte Zone zur freien Gestaltung erhält, könnte als kuratorisches Prinzip der sicheren Seite angesichts der Verschiedenartigkeit der Positionen zu interpretie-ren sein. Jedoch wäre es durch die im Kunstverein vorgegebenen festen Raumfolge durchaus möglich gewesen, die in der Ausstellung zweifellos spürbare Spannung zwischen dem Massiven und dem Fragilen mit der Reihenfolge, in der die Künstler die einzelnen Räume einnehmen, weiter auszureizen. So hätte es sich angeboten, Arbeiten miteinan-der zu konfrontieren, die trotz vordergründig ähnlichem Ausgangspunkt eine gegensätzlich anmutende Materialität erhalten, wie die mit Baumrinden bearbeiteten weißen Papierbögen Aja von Loepers und Ole Müllers farbige „Pa-pierplatten“, in denen mitgepresste Steine kraterartige Einbuchtungen hinterlassen haben – was eher an neuronale Netzwerke als an tote Materie denken lässt.
Dass Papier weit mehr als nur Trägermaterial für Zeichnungen und Aquarelle ist, demonstriert die Ausstellung deutlich. Ebenso wird klar, dass die Wandlungsfähigkeit des Mediums stark auf Beleuchtungseffekte angewiesen ist (zu denen in der Ausstellung leider ebenso die Reflexe auf den hinter spiegelndem Glas gerahmten Arbeiten zählen). Hinter den Vorhangbahnen aus Küchenrollenpapier hat Frank Rothfuss auf der Fensterbank ein Gehirn versteckt. Das vollkommen eingekleisterte Papierobjekt wirkt wie ein außenstehender Beobachter, der das Geschehen kommentiert: Manchmal ist es eben auch Papier, was glänzt.


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