Vernetzungstraum in Öl und Hasendraht. Constant. New Babylon

Reina Sofía, Madrid, 20. Oktober 2015 bis 29. Februar 2016

Tiefschwarz hängt die Soleá im hell erleuchteten Museumsraum der Reina Sofía, ausgehend von einem eher unauffällig an der Wand angebrachten Monitor, auf dem eine Videoaufnahme des Flamencogitarristen Manuel Serrapí, zu sehen ist. Ganz auf sich und sein Instrument konzentriert interpretiert er die von Einsamkeit und Melancholie erzählende Soleá „Sevilla es mi tierra“. Die Soleá – ein Palo im Flamenco, der tief empfundenen Schmerz in einem zwischen angespannter Gefasstheit und entschlossener Getriebenheit hin- und herwechselnden Rhythmus zum Ausdruck bringt, tönt als verborgenes Leitmotiv durch die halbe Ausstellung. In Kooperation mit dem Gemeentemuseum Den Haag hat das Museum Reina Sofía eine umfangreiche Präsentation des als Mitglied der CoBrA-Gruppe und der Situationistischen Internationale bekannten Künstlers auf die Beine gestellt. Die kunstvoll choreografierte Verlorenheit, die als Charakteristikum der Soleá hervortritt, kennzeichnet auch die über 15 Jahre andauernde Arbeit Constants an seiner Utopie der Stadt New Babylon, die sich zwischen 1958 und 1974 immer mehr in einen dystopischen Abenteuerspielplatz verwandelte.

Besonderen Einfluss auf Constant hatte die Konfrontation mit den im Zweiten Weltkrieg zerstörten Gebäuden, die in den 1950ern oft in einer von den Situationisten kritisierten funktionalistischen Bauweise wiedererrichtet wurden. Als Constant 1958 zu den Situationisten stieß und sein erstes, dem gerade nicht Zweckmäßigen verpflichtetes, Architekturmodell baute, befand er sich gerade auf einem Forschungsaufenthalt im italienischen Alba. Hier fand er seine zweite große Inspiration: Das am Stadtrand lagernde fahrende Volk weckte Constants bereits in seiner Jugend entwickelte Faszination für den Flamenco, der für ihn nun zum Inbegriff einer dem „neuen Babylonier“ zugeschriebenen nomadischen Freiheit und Selbstbestimmtheit wurde.
Mit der Gruppe Triana, deren Verbindung von Progressive-Rock und traditionellem Flamenco v. a. in der die Befreiung und Erweiterung individuellen Bewusstseins vorantreibenden Zeit nach dem Tod Francos Erfolge feierte, entwarf Constant 1965 für Sevilla eine Anordnung architektonischer Gruppensektoren, die er nach Flamencostilen wie der Taranta, der Alegría, der Siguiriya usw. benannte. Diese Mischung an mit unterschiedlichsten Emotionen verbundenen Tänzen, die von Liebe und Tod, unbändiger Freude und drückender Last durchtränkt sind, der Stadt aber auf dem Entwurfspapier bloß oberflächlich zitierend auferlegt sind, wirkt beinahe rührend harm- und wirkungslos. Und doch vermittelt sich zwischen den einander umringenden Bildern und Objekten, aus denen sich New Babylon formiert, eine eigentümliche Mischung aus ans Naive grenzender Spielerei und einer mit großem Ernst ausgearbeiteten Bildsprache. Das Bewusstsein eines unabwendbaren Einsturzes des sich ins Unendliche reckenden babylonischen Turms schwingt in jedem Strich bereits mit.
Viele Architekturmodelle wirken wie reliefartige Gemälde, als plane Constant, New Babylon aus der Übermalung bereits existierender Städte erstehen zu lassen: Eine Stadt in Aquarell und Buntstift, jederzeit auszuradieren und neu zu skizzieren. Constant sah New Babylon nicht als Bauplan, sondern als Illustration seiner Ideen. Auch die Ausstellung in der Reina Sofía tritt als Aneinanderreihung von Vorschlägen auf. Die von Constant selbst immer wieder neu konzipierte Präsentation der Modelle – auf kleinen Tischen, weißen Sockel, hölzernen Kufen, in völliger Dunkelheit oder wie Lampen von der Decke hängend – unterstützt die Immaterialität der Entwürfe. Wie ein Fuhrpark soeben zwischengelandeter unbekannter Flugobjekte sind auch die abgenutzt wirkenden Modelle aus Draht und farbigem Acrylglas selbst sichtbar verschraubt, als könnte man sie auch neu und anders zusammenbauen, um sie, auf den Spuren des 1957 losgeschickten Erdsatelliten Sputnik, ins All zu schießen. Doch die Bezüge zur Raumfahrt und zum Nomadentum vermitteln nicht nur heitere Aufbruchstimmung. Die Assoziationen zu Kaltem Krieg und Heimatlosigkeit, die sie mitbringen, lassen weiter die zerbombten Ruinen durchscheinen, die den Ausgangspunkt von Constants Projekt bilden und wie schlecht verheilende Narben immer wieder störend ins Wachstum New Babylons eingreifen – so z. B. im Modell Groep Sectoren (1959): Einer Stadt auf dunkelgrauem, rot besprenkeltem Grund, durchschnitten von scharfen weißen Linienschwüngen, am Rand durchsetzt von schusslochartigen Auslassungen.

Für das Übermalen tatsächlicher Stadtgebiete bzw. der „psychogeographischen“ inneren Bilder, die man sich von diesen macht, griffen die Situationisten nicht zum Pinsel, sondern zur dérive, einer dem Spazierengehen ähnlichen Methode, die jedoch nicht der Entspannung, sondern der Desorientierung dient. Dadurch, dass man gerade nicht den, von der konventionellen Stadtplanung geprägten, subjektiven Gewohnheiten, sondern den von Besonderheiten der Umgebung selbst vorgegebenen Wegen folgt, soll es möglich werden, die Stadt in ein dezentrales Netz aus möglichen Wegen aufzulösen. Das New Babylon-Projekt aber, das zunächst unter dem Titel dériville lief, will mehr. Es geht um nichts weniger als den Entwurf einer Stadt für die Bedürfnisse eines neuen Menschentyps, des homo ludens nach Huizinga, dem der Designer selbst eben noch nicht angehört. Diese Zwickmühle führte dazu, dass Constant die Arbeit an dreidimensionalen Modellen, die wohl einen größeren, vielleicht zu großen Eindruck von Umsetzbarkeit vermittelten, ab den 1970ern aufgab, um sich immer stärker der malerischen Imagination zu verschreiben.
Beim Rundgang durch die chronologisch angelegte Ausstellung fühlt man sich keineswegs wie auf einem Zeitstrahl, sondern fast ein wenig wie auf einer dérive, in der sich zweckfreie Modellarchitekturen, zwischen malerischer Komposition und provisorischer Planungsskizze oszillierende Wandarbeiten und eine nervöse Flamencogitarre zu einer leicht desorientierenden Atmosphäre fügen und – gemäß psychogeographischer Stoßrichtung – eine Reflexion über die eigenen Gewohnheiten beim Besuchen einer Ausstellung bewirken. Der Eingang der Ausstellung gestaltet sich mit einer Hängung einiger kleinformatiger Frühwerke so unspektakulär, dass man Gefahr läuft, an ihm vorüber zu hasten. Hat man ihn passiert, wird man zunächst durch eine Rekonstruktion des blau-violetten Farbraums geschickt, den Constant 1952 in Kooperation mit dem Architekten Aldo van Eyck und dem Maler und Dichter Lucebert anlegte, bevor man den kleinteiliger bestückten ‚Hauptteil’ der Ausstellung erreicht. Den Abschluss bildet eine Gruppe späterer Gemälde, ergänzt um eine Rekonstruktion des Labyrinths aus übermannshohen Türen, das Constant 1974 für das Den Haager Gemeentemuseum entwarf.
Dass der Begleittext recht einseitig die Bedeutung der Auseinandersetzung mit utopischen Entwürfen für die Malerei vor und nach New Babylon betont, ohne dabei den Einfluss, den umgekehrt auch die Malerei zu jedem Zeitpunkt auf Constants Schaffen hatte, zu vermerken, verwundert angesichts der Arbeiten, die selbst sehr wohl eine wechselseitige Beziehung zwischen architektonischer Entwurfsarbeit und malerischer Komposition nahelegen: Formen aus Acrylglas schimmern wie lasierend aufgetragene Farbflächen im Raum, Drippings und Drähte lassen als Spontaneität und Flexibilität ausdrückende und doch einschneidende Elemente eine nicht nur formale Affinität zueinander – wie auch zu den unsichtbar im Ram klingenden Gitarrensaiten Manuel Serrapís – erkennen.

Als Constant sein New Babylon-Projekt dem Den Haager Gemeentemuseum überließ, sah er in dessen vorläufigem Abschluss den Startschuss für folgende Generationen, die seine Ideen später weiterdenken würden. Die Ausstellung in der Reina Sofía aber scheint kaum Interesse daran zu haben, die zahlreichen Anknüpfungspunkte in Constants Gedankenkosmos für unsere heutige, tatsächlich umfassend vernetzwerkte und immer mobiler werdende Gesellschaft greifbar zu machen. Lediglich die Wandtexte lassen in ihrer Beschreibung New Babylons als globales Netz aus mobilen Architekturen den Eindruck entstehen, wir selbst befänden uns nun tatsächlich in diesem Paradies kreativer Machbarkeit, in dem die Ideen des unitary urbanism – einer Theorie, die Constant mit Guy Debord gegen die utilitaristische Konsumgesellschaft entwickelte – bereits Teil real geworden sind.
Doch kann eine nach diesen Vorgaben unbedingter Selbstentfaltung errichtete Stadt überhaupt anti-kapitalistisch sein? Flexibilität und Kreativität sind heute zur Pflichtübung für jeden einzelnen, der sich selbst auf dem Markt zu halten hofft, geworden. Die Soleá, so heißt es, gleicht einem Meer von Tränen. Wahrscheinlicher als dass das heutige Kreativsubjekt in Tränen ausbricht, ist jedoch, dass es sich aufgrund seiner permanent zur Entwurfsarbeit und zu Networking-Zwecken notwendigen Bildschirmarbeit gezwungen sieht, sich seine von ihm selbst ‘entfremdete’ Tränenflüssigkeit aus der Apotheke zu beschaffen. In einer Gesellschaft, die erwartet, dass jeder sich und seine Umgebung permanent neu erfindet, kann es passieren, dass man sich plötzlich tatsächlich wie in einem der Spätwerke Constants fühlt, gefangen zwischen labyrinthische Strukturen aus opaken Scheiben und Leitern, die ins Nirgendwo führen.
Die Ausstellung in der Reina Sofía macht zwar zu ihrem Ende hin deutlich, wie der Koreakrieg und die politischen Unruhen von 1968, z. B. über eingefügte Zeitungsausschnitte, Eingang in die gemalten und gebauten, physischen wie psychischen Räume New Babylons fanden, versäumt es jedoch, über die der Idee einer grenzenlosen Mobilität und Kreativität selbst inhärenten Schwächen nachzudenken. Dass in unserer globalisierten und digitalisierten Welt Wenige immer wieder Gelegenheit dazu erhalten, einen Ausschnitt von Welt – zumindest temporär – nach ihrem Belieben, aber darum noch lange nicht zu unser aller Bestem zu verändern, und umgekehrt vielen anderen die Möglichkeiten, die sie gemäß gesellschaftlicher Erwartungen wahrzunehmen hätten, gar nicht zur Verfügung stehen, ist für sich bereits ein großes Thema. Angerissen als Ausblick am Ende der Ausstellung hätte es jedoch noch einmal eine andere Perspektive nicht nur rückblickend auf die Arbeiten Constants, sondern auch auf Formen der babylonischen Sprachverwirrung im 21. Jahrhundert erlaubt.

Im einem Werbespot der Baumarktkette Hornbach zimmern derzeit Vertreter unterschiedlicher Nationen und Weltreligionen einen stileklektizistisch zwischen Gartenlaube und Fachwerkhaus schwankenden Wolkenkratzer zusammen. Hämmern, Sägen, Klopfen, klatschender Mörtel und das Klingen der Kellen stimmen ein auf das eigentliche Event, auf das alle unbewusst hinzufiebern scheinen: das lärmende Einstürzen des windigen Handwerkerturms. Musik in den Ohren der Hornbach-Gemeinde, deren Mitglieder im ganzen Spot kein einziges Wort, sondern lediglich erstaunte bis verständnislose Blicke angesichts des Treibens der jeweils anderen gewechselt haben. Nun, da sie vor einem Haufen Schutt und Asche stehen, sind sich offenbar alle einig: Der alte Turm ist weg, ein neuer Turm muss her. Stummes Einverständnis macht jede Diskussion überflüssig.
An der Nürnberger Kunstakademie wiederum spielte unlängst Felix Boekamp von Constant verfasste und von einer weiblichen Computerstimme eingesprochene Texte über ein aus transparentem Kunststoff bestehendes Lautsprechersystem ab. Die organisch geformten Elemente des Soundsystems fügten sich wie zu einer utopischen Miniaturstadt zusammen, die visionären Sätze aber verloren sich in der schlechten Akustik der halb leeren Ausstellungshalle zu einem schwer verständlichen, aber mit unerschütterlich-standardisierter Freundlichkeit vorgetragenen Hintergrundgeräusch.
New Babylon tritt als in einem sichtbaren Kraftakt zusammengetragener, komplexer Kosmos auf, dessen Besuch allein schon seiner vielfältigen Fülle wegen lohnt, Dennoch hätte es durchaus im Aufgabenbereich der Reina Sofia gelegen, die Gefahr, dass gerade in einer Welt der Meinungsvielfalt und unbedingten Selbstverwirklichung immer weniger Stimmen immer undeutlicher zu vernehmen sind, stärker mitzudenken.


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