Get Well Soon.

Kunsthaus Nürnberg, 7. Dezember 2019 bis 1. März 2020

Wann sind wir eigentlich „völlig“ gesund? Wann und warum fühlen wir uns schlecht, und wer diagnostiziert überhaupt aufgrund welcher Befunde, dass wir „krank“ sind oder es bald zu werden drohen? Die Weltgesundheitsorganisation definiert Gesundheit als „Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.“ Umgekehrt definiert die gesetzliche Krankenversicherung Krankheit als „objektiv fassbaren, regelwidrigen körperlichen oder geistigen Zustand, der die Notwendigkeit einer Heilbehandlung erfordert und zur Arbeitsunfähigkeit führen kann.“ Was Krankheit bedeutet, scheint leichter und klarer gesagt, als Gesundheit in allgemein gültige Worte zu fassen. Natürlich liegt das auch daran, wer dies jeweils definiert. Doch scheint es eine Tendenz zu geben, uns die Freiheit zu lassen, festzulegen, was es für uns subjektiv heißt, gesund zu sein – bei der Frage, ob jemand krank ist, glaubt man aber eher dem „objektiven“ Urteil eines Dritten.

Statt um klare Definitionen von „Gesundheit“ und „Krankheit“ geht es in „Get well soon“ um deren Dazwischen: einen Zustand der Schwelle, die sich, ohne dass man es immer merkt, ständig verschiebt, so dass man sich selbst nie ganz sicher ist und sein kann, wie weit man gerade in die eine oder andere Richtung tendiert. Die Frage, „wie gesund oder krank bin ich eigentlich?“ meint auch, sich in ein Verhältnis zur eigenen Natur und Vergänglichkeit, aber genauso zur Gesellschaft und deren Erwartungen zu setzen.
Natürlich gibt es Viren, Bakterien, Schadstoffe, genetische Veranlagungen usw., die objektiv feststellbare Krankheitsbilder, Schmerzen und Beschwerden verursachen. Was uns aber in dieser Ausstellung interessiert, sind Bilder von Genesung. Oder: das Phänomen dass Krankheit und Gesundheit immer in verschiedenen Graden und Wahrscheinlichkeiten vorkommen, und dass unser Blick auf dieses Verhältnis stets von öffentlichen und medialen Diskursen beeinflusst ist. Oft vermitteln Bilder der Konsumkultur bestimmte Auffassungen darüber, wie wir jeweils für uns selbst Verantwortung für unsere Gesundheit übernehmen sollen – damit auch der Organismus der Gesellschaft funktioniert. In dem, was wir als „krank“ und „gesund“ empfinden, spiegelt sich sozusagen ein angenommenes oder postuliertes Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft wider.

1975 klagte Ivan Illich, die moderne Medizin sei durch die Abkehr vom Individuum zur größten Gefahr für die Gesundheit avanciert. Indem sie Schmerz und Tod zu technischen Problemen mache, werde sie zu einer krankmachenden Gesundheitsökonomie. Man wird „eingestellt“, meist medikamentös. Diagnose wird zum Abwägen von Risikofaktoren. Dagegen fordert Illich, dass Gesundheit für jeden von uns zur „persönlichen Aufgabe“ werden soll: Ihr Gelingen sei „weitgehend eine Folge der Selbsterkenntnis, der Selbstdisziplin und der inneren Kräfte, durch die jeder seinen eigenen Tagesablauf, sein Handeln, seine Nahrung und sein Geschlechtsleben reguliert.“
Das Problem ist: Selbstzuständigkeit kann genauso sozialen Druck ausüben. So vermutet die Soziologin Greta Wagner, dass wir es heute mit einem „buddhistischen“ Geist des Kapitalismus zu tun haben – mit einer Ideologie emotionaler Unabhängigkeit. Sie schreibt: „In Zeiten, in denen allerorts von Knappheit der Ressourcen die Rede ist, sollen sich Einzelne auf ihren inneren Reichtum richten. Das gelassene Annehmen und Herbeiführen ständigen Wandels, das Anpassen eigener Ziele und Wünsche und der Glaube in das eigene Potential sind Schlüsselkompetenzen.“ Achtsamkeitsübungen sollen helfen, Stress zu bewältigen und Sinn zu finden. Dem Subjekt wird vermittelt, es könne und müsse alle Probleme mit sich selbst lösen. Wer nicht zurechtkommt, hat wahrscheinlich einfach die falsche Einstellung.
Schon im 19. Jahrhundert, erläutert Susan Sontag, wurde die Tuberkulose als verursacht durch unterdrückte Leidenschaften erklärt, die den Körper „sich selbst“ verzehren ließen und zur Vergeistigung führten. Auch Krebs wird mitunter unterdrückten Gefühlen zugeschrieben, aber weniger der Liebe, wie bei Tuberkulose, als der Wut. In beiden Fällen wird den Erkrankten unterschwellig eine Teilschuld gegeben, da sie unfähig seien, ihre Gefühle zu leben oder zu managen. Sontag kritisiert vor allem die metaphorische Verwendung von Krankheitsbildern im täglichen Sprachgebrauch. Häufig wird Erkrankten dabei, wenn auch unbewusst, die Täter- und Opferrolle in Personalunion zugewiesen. Das eigene Gesundbleiben zu kontrollieren, wird zur Pflicht und Bürde.
In der Gesundheitsmetaphorik wiederum werden Einzelne gern zu Rettern ihrer selbst stilisiert. Oft gerät eine gewünschte Nähe zur Natur in den Fokus, meist im Sinne der Bewahrung von und Sehnsucht nach Ursprünglichkeit. In dieser Logik gilt es weniger die geordnete Gesellschaft vor potentiell infektiösen Gliedern zu schützen als die Natur vor der angeblich krankmachenden Zivilisation.
Natur, Gesellschaft und Individuum sind aber nie einfach nur krank oder gesund. Sie sind es sowohl als auch, und zwar in Abhängigkeit voneinander. Kann Kranksein, bei allem Leid, das es hervorruft, nicht auch für die eigene Lebendigkeit und Eingebundenheit ins Soziale und Ökologische sensibilisieren? Und meint Gesundheit nicht letztlich auch die Anfälligkeit dafür, krank zu werden?
Daher geht es in „Get well soon“ nicht um „die“ Krankheit und „die“ Gesundheit, sondern um die mehrdeutigen Übergänge zwischen den Terrains. So können mehrere Arbeiten als positive Bekräftigung und zugleich als unterschwellige Hinterfragung der Idee aufgefasst werden, gesünder durch Naturverbundenheit zu werden. Wobei Naturverbundenheit als meditativer Rückzug ins Selbst ebenso interpretierbar ist wie als Öffnung auf das Kosmische – oder ein nahegelegenes Sozialbiotop – sind doch Natur und Gesellschaft kaum voneinander zu trennen.

So zeigen Daniel Keller und Nik Kosmas von AIDS-3D eine Reihe merkwürdiger Gartenbrunnen, ausgestattet mit Mini-Computern. Über eine App verbinden sich diese mit dem „World Community Grid“ – einem von IBM unterstützten Projekt, das nicht benötigte Rechenleistung eines Computers für Forschungsinstitutionen zur Verfügung stellt. Hier wird aktuell das Projekt „Mapping Cancer Markers“ unterstützt. Die Arbeit fragt damit nicht zuletzt, welche Bedeutung ein Kunstwerk als Dekoration oder soziales Tool haben kann – und welche Rolle dem Künstler als „kreativem Quell“, aber auch gesellschaftlichem Akteur zukommt.
Umgekehrt zu dieser Logik, dass Gemeinwohl und Gesundheit durch technischen Fortschritt zu fördern sei, propagieren sog. „Digital-Detox“-Programme eine „Entgiftung“ vom Umgang mit digitalen Devices. Linda Weiß‘ Installation spielt auf solche Regenerationskonzepte durch Aufenthalte in der Natur an. Die hybride Landschaft aus fluoreszierenden 3D-Drucken, io-Plastik und Keramik mit integrierten Handy-Ladegeräten spielt mit der Situation, in der „der Akku leer ist“, im übertragenen wie im buchstäblichen Sinn. Wer möchte, kann hier während des Ausstellungsbesuchs sein Handy aufladen. Der regenerative Kreislauf, in den wir uns einklinken können, wird mit den sich am Boden schlängelnden Stromkabeln selbst zum ästhetischen Objekt. Der Zyklus von Licht und Dunkelheit lädt die Solarlampen auf und bringt sie zum Leuchten.
Bei Daniel Kiss taucht die Verschränkung von Natur und Künstlichkeit in einer Anordnung auf, die als brüchige Wohlfühlumgebung mit künstlichen Pflanzen und transparenten Paravents Ausblicke und Hindernisse für die Bewegung durch den Raum bietet. Assemblagen aus gegossenem Papier und kleinen Kunst-Natur-Fragmenten erinnern an Überbleibsel saisonal getönter Landschaften und zugleich an Vergrößerungen einer unbekannten Substanz in der Petrischale. Die Installation ist Mikrokosmos und Makrokosmos, Schlafzimmer und Altarraum, Kreativwerkstatt und Gartenparadies. Heilsame Raumkonzepte und Materialanmutungen werden zu umhüllenden Oberflächen, die die „nachgemachte Natur“ als etwas herausstellen, das uns immer schon umgibt, anders, doch nicht weniger „echt“ als das Blätterdach beim Waldspaziergang.

Die Eigenwirkung von Materialien spielt eine Hauptrolle in der Ausstellung. Organisch anmutende Materialien, die sich dehnen, biegen, stretchen – oder aber aufreißen, aufweichen und verschwimmen, als wollten sie sich einer künstlerischen Reha-Maßnahme des Wieder-Beweglichwerdens widersetzen. Anpassungsfähigkeit auf der einen Seite und das störrische Beharren auf die eigene Brüchigkeit dieser Materialien auf der anderen können dabei stellvertretend für körperliche und geistige Zustände gelesen werden, die sich in einem Wandlungsprozess befinden.
Benjamin Zuber bearbeitet Materialien aus Krankenhausumgebungen. Die Verarbeitung eines eigenen Unfalls mündet, getrieben von der Faszination für die Optik des Funktionalen, in einer Ästhetisierung zweiten Grades, die auf Abstrahierung, Fiktionalisierung und Rhythmisierung von Mustern beruht. Z. B. den Mustern von Patientenhemden, die linkisch in einer Art Mobile rotieren. Die perspektivisch in Untersicht verfremdete Bewegung eines Rollstuhls auf Tour durch das Labyrinth der Krankenhausgänge. Ein schlingerndes Raster aus Fliesentextur. Die anthropomorphen Reha-Objekte scheinen selbst noch etwas wacklig auf den Beinen.
Stanya Kahns und Llyn Foulkes‘ tragikomisches Musikvideo „Happy Song for You“ lässt Tierschädel und Spielzeugroboter aufeinandertreffen und beschwört eine animistische Atmosphäre zwischen Fürsorglichkeit und Bedrohung. Man denkt ein wenig an Beuys. Die teils visuell schmerzenden, aber auch humorvollen Bilder treten in Spannung zum Titel: Es ist ein „fröhliches Lied“, für eine unmittelbar adressierten „Du“. Aber das Verhältnis zu dieser Person scheint alles andere als einfach nur „happy“, sondern in der Schwebe gehalten. Irgendetwas kippt stimmungsmäßig stetig hin und her, aber ob sich da ein Zustand verbessert oder verschlechtert, ist schwer zu sagen.

Auch Kai Altmanns Sonnensegel scheinen auf krisenhafte Durchgangsstadien anzuspielen. Die Künstlerin arbeitet an stetig wechselnden Orten auf der Welt, in hyperurbanen ebenso wie infrastrukturell abgeschnittenen Gegenden, und entwickelt aus diesen Erfahrungen hybride Sprachen, die auch von digitalen Kommunikationsweisen geprägt sind. Gleichsam per Kurznachricht oder Werbeslogan wird man in den schwer entzifferbaren Textfragmenten über den individuellen Körper- und Geisteszustand in Kenntnis gesetzt, wobei die Lage des ganzen Ökosystems mitzuschwingen beginnt – die sich scheinbar zwischen Umweltkrise und Zombie-Apokalypse bewegt.
Die Figur des Zombies erscheint mir hier passend für einen Schluss. Sie bewegt sich zwischen Leben und Tod, aber auch zwischen Natur und Künstlichkeit, Gewissermaßen gehört es zum Berufsrisiko von Künstlerinnen und Künstlern, durch experimentellen Umgang mit verschiedenen Techniken und Naturelementen genau solche potentiell viralen Zwischenstadien hervorzurufen. Wahrscheinlich werden Sie sich beim Besuch der Ausstellung genau solchen Zuständen aussetzen müssen.


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