Diagnose Zwischenwesen. Über Arbeiten von Tania Felske, Ha-Nul Lee und Alexander Sahm

Fest verankert im kollektiven hypochondrischen Gedächtnis sind jene zahlreichen abschreckenden Röntgenbilder, die vergessene medizinische Instrumente und Überbleibsel zwischen den Organen offenbaren. Fremdkörper im Eigenkörper, scharfkantig, metallisch, vom Hilfsmittel zum Eindringling geworden. Doch nicht nur solche „Horrorgramme“, sondern auch „normale“ Röntgenbilder wirken oftmals fremd und unheimlich, obwohl sie doch das Eigenste und Innerste des Menschen zu durchleuchten suchen. Unter der Haut ist das Ich scheinbar ein anderer, skelettiert in Teile, deren Zusammenhalt brüchig, unwahrscheinlich anmutet. Auf dem Röntgenbild sieht alles durchscheinend fragil aus. Ein Körper aus Kontrasten und Verläufen zwischen Schwarz und Weiß, anhand derer die Entscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit ablesbar gemacht werden soll.
Tania Felskes Fotogramme sehen aus wie Röntgenbilder. Nur dass man nach einer wiedererkennbaren Anatomie – von der aus sich wiederum Abweichungen feststellen ließen – des Abgebildeten vergeblich sucht. Zwischen geometrisch-abstrakt und ergonomisch-organisch changieren die Formen, die uns gewissermaßen zur Musterung vorliegen. Die Vermutung, dass es sich bei den zu untersuchenden Patienten um Alltagsgegenstände handeln könnte, liegt nicht fern – doch was genau zu sehen ist, bleibt in den meisten Fällen der Motive undurchschaubar. Tania Felske hat sich unserer treuen Begleiter der Plastikverpackungen und Kunststoffartikel angenommen und sie direkt auf Fotopapier belichtet – ihr hüllenhaftes Innenleben inszeniert, so dass sie nun wie geisterhafte Erscheinungen aus Ektoplasma auf dem schwarzen Grund schweben. Faszinierend und in ihrer nicht klar zuzuordnenden Form zugleich unterschwellig bedrohlich wirken die abstrakten schlichten Formen, hinter denen sich doch jene Abfallprodukte verbergen, die von uns viel zu selten recycelt werden und die darum – wie formal mit dem schwarzen Grund angedeutet – viel zu oft in den sogenannten ›Weiten‹ der Ozeane landen (welche dadurch jedoch immer enger werden).

Anhand eines Röntgenbildes blickt man – meist mit einem anderen, einem Experten – in sich selbst hinein. Begutachtet, spürt auf, wägt ab, was an der richtigen Stelle in der passenden Größe vorliegt. Doch Krankheit und Gesundheit sind keine objektiv feststellbaren und klar konturierten Tatsachen, sondern Zustände der Schwelle, die sich, ohne dass man es immer merkt, ständig verschieben, so dass man sich nie ganz sicher ist und sein kann, wie weit man selbst gerade in die eine oder andere Richtung tendiert. Die Frage, „wie gesund oder krank bin ich eigentlich?“ meint auch, sich in ein Verhältnis zur eigenen Natur und Vergänglichkeit, aber genauso zur Gesellschaft und zu deren Erwartungen zu setzen. Krankheit und Gesundheit kommen meist nur in verschiedenen Graden und Wahrscheinlichkeiten vor. Unser Blick auf dieses Verhältnis ist dabei stark von öffentlichen und medialen Diskursen beeinflusst. Oft vermitteln Bilder der Konsumkultur bestimmte Auffassungen darüber, wie wir jeweils für uns selbst Verantwortung für unsere Gesundheit übernehmen sollen – damit auch der Organismus der Gesellschaft
Funktioniert – oder eine mit unserem eigenen Wohlbefinden korrespondierende Harmonie der Umwelt und Natur. In dem, was wir als „krank“ oder „gesund“ empfinden, spiegelt sich ein angenommenes oder postuliertes Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft wider.
Tue ich genug für meine Vitalität? Konsumiere ich bereits zu viel, was krank macht? Und überhaupt: Wer leidet, wenn ich mir was Gutes tue? Was kann genesen, wenn ich mich beschränke?

Das Eindringen des Virus in den letzten Monaten der Pandemie hat unsere Sensibilität dafür geschärft, wie die Gefahr der Ansteckung eine Spaltung im Denken zwischen innen und außen, eigen und fremd befördern kann. Dafür, dass niemand immun sein kann, und dass sich nur die Wahrscheinlichkeit der Ansteckung, der Grad der Anfälligkeit aus verschiedenen organischen und sozialen Gründen unterscheidet; dass wir somit aber alle Zwischen- oder Schwellenwesen sind in einem solchen Sinne, dass unser Organismus keineswegs „eins“ mit sich und seinen Eigenheiten ist. Dass er vielmehr durchlässig für andere (Mikro-)Organismen und eben auch Viren ist. Dass er mikroskopisch kleine Partikel, belebter wie unbelebter Art, aufnimmt: Bakterien, Viren – aber z.B. auch Mikroplastik als eines von vielen Überbleibseln menschlich geschaffener Produkte, die exportiert, verschifft, abgestoßen werden – und nun wieder in unseren Organismus Eingang finden. Sie legen damit die Vorstellung, es gäbe so etwas wie eine „Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn“-Entsorgung unseres Zivilisationsmülls als naiven Wunschtraum offen. Unser Befinden ist an dasjenige anderer Spezies und Individuen gekoppelt – jedoch nicht in harmonischer Parallelität zueinander, sondern auf komplex verstrickte Art und Weise. Dies erfordert von uns empathisches Einfühlungsvermögen genauso wie die Bereitschaft anzuerkennen, dass wir nicht immer wissen können, was ein Gegenüber braucht und was ihm Stress bereitet.

So schreibt etwa Donna Haraway in Bezug auf das Phänomen der „Ko-Evolution“ zusammenlebender Arten oder „companion species“: „Ich glaube, dass jede ethische Bezugnahme und Beziehung, innerhalb oder zwischen Spezies, aus dem seidenstarken Faden der anhaltenden Aufmerksamkeit für die Andersartigkeit-in-Verbindung geknüpft ist. Wir sind nicht Eins, und Sein hängt davon ab, miteinander auszukommen. Wir haben eine Verpflichtung, zu fragen, wer zugegen ist und wer entsteht.“
Jörg Scheller wiederum vermutet, weniger in Bezug auf die uns begleitenden domestizierten Tiere als auf Technologie und Mikroteilchen: „Nicht die neuerliche Hochkonjunktur des Individuums wie in den Jubeljahren von Humanismus und Aufklärung ist […] eine Begleiterscheinung der Digitalisierung, sondern das vermehrte Auftreten des Dividuums – eines Wesens, das so singulär wie zugleich zerteilt, verkettet, verschaltet, eingebettet ist.“
In beiden dieser so unterschiedlichen Zitaten geht es um einen Zugang zur Welt, der unsere Abhängigkeit und Teilbarkeit und Formbarkeit in einem Verhältnis zwischen vielen mitdenkt. Gerade unsere Durchdrungenheit von und Vernetzheit mit anderen (In)Dividuen, Organismen und auch Technologien, die allen oder zumindest vielen von uns gemein sind, lassen uns – mit all den Unterschieden, die unser Verhältnis zueinander überhaupt erst interessant machen – anschlussfähig füreinander werden; anschlussfähig hinsichtlich unserer Handlungsfähigkeit wie Vulnerabilität.

Gleichzeitig ist ein solcher „dividueller Zustand“ in bestimmten Kontexten auch Gegenstand von Kulturkritik. Es ist kein Geheimnis, dass wir in unserer Rolle als Konsumentinnen in kleinteilige Datenspuren zerlegt werden, die besonders „passende“ Produktvorschläge für uns erst ermöglichen – dadurch dass sie die kleinsten Bestandteile unserer Interessen und Vorlieben rekombinierbar machen und wir somit neues entdecken können, ohne uns einem völlig Fremden konfrontieren zu müssen. Algorithmen, so fasst es Armen Avanessian zusammen, folgen einer „präemptiven“ Logik: Sie „kennen unter Umständen deine Wünsche schon, bevor du dir selbst über diese klar wirst“ (in: Der spekulative Zeitkomplex). Tatsächlich ermöglicht die Auswertung von Nutzerdaten sogar, noch nicht existierende Produkte zu konzipieren, für die es bald mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Absatzmarkt geben wird – das beste Beispiel ist Netflix. Die Angebotsseiten verschiedener Online-Anbieter für alle möglichen Konsum- und Unterhaltungsprodukte zeigen uns charakteristischerweise eine Mischung aus dem, für das wir bereits vorher verstärkt Interesse gezeigt haben, und dem, was andere, die ähnliche Interesse zeigen, interessant fanden. So einfach, so komplex. So wirksam. Und auch praktisch. – Und was die Kritik an klischeehaften Vorstellungen von den Wünschen der Konsumentinnen, der bestimmten Mustern folgenden Geschichten um Produkte und um auftretende Charaktere betrifft – so anfällig sind wir hierfür doch tatsächlich nicht. Oder? Die meisten überholten Rollenbilder erkennen wir doch heute mühelos. Häufig ist es in den Medien bereits der ironische Umgang mit solchen „Idealvorstellungen“, von Leben, von Beziehungen, vom Selbst, der uns adressiert, belustigt – und trotzdem irgendwie einfängt.

Wenn aber nun bereits anhand des (Mikro-)Plastiks zu beobachten ist, dass unsere Ablagerungen der Zivilisation letztlich auf unseren eigenen Organismus zurückschlagen – eben weil wir nicht losgelöst von einem Netzwerk und Ökosystem existieren – wo lagern sich die Reste all dieser Geschichten, die (Mikro-)Plots, (Mikro-)Identitäten und (Mikro-)Rollenbilder ab, die noch aus der anspruchsvollsten Unterhaltungsproduktion in unser Bewusstsein tropfen? (Wie) beeinflussen sie unsere Ideen, Träume und Vorstellungen für die Gegenwart und Zukunft?
Kann eine ständige Zerlegung und Neukombination kleinster Partikel unseres Selbst auf ideeller Ebene eine Bildung von Dichotomien und Stereotypen in den Erzählungen und Haltungen, die uns in unseren materiellen wie geistigen Produkten entgegentreten, aufbrechen – oder fördert sie eine solche stellenweise sogar eher durch bloße Suggestion, in der Montage der Einzelteile neue Bilder eines erstrebenswerten Lebens, alternativer Identitäten oder einer anderen Gesellschaft zu kreieren?
Wenn Serien mittlerweile folgerichtiger zu eskalieren scheinen als die politische Realität, die zunehmend als post-faktisch surreale Doku-Soap rezipierbar wird, ist hier bereits eine geteilte Welt, zumindest in bestimmten, intellektuell interessierten Kreisen entstanden. Realitätsnähe ist vor allem Vorstellbarkeit. Und Vorstellbarkeit braucht Leerstellen zwischen den Anschlüssen, die vorrangig auf Sequels und Folgestaffeln des Gegebenen verweisen. Die spekulative Kraft unseres Serienkonsums, nicht nur wenn es sich um Science-Fiction-Szenarien handelt, hängt maßgeblich davon ab,

Die Installation Household Supplies for Overseas von Ha-Nul Lee und Alexander Sahm macht sich auf, den dichotomen Sichtweisen, die uns so oft bequeme Ordnung in unserem Weltverständnis versprechen, in die Quere zu kommen: Im Zentrum der Arbeit steht die Imagination eines hybriden Wesens zwischen Fisch und Mensch, das sich Zuordnungen von Class, Race und Gender entzieht. Die Oberfläche der anthropomorphen Plastiken ist von einer gleichmäßigen, sowohl schuppen- als auch blatt- und fellartigen Textur überzogen und scheint damit eher Vernetzungsfähigkeit mit anderen Wesen anzuzeigen denn sich als Individuum zu profilieren. Auf den Fotografien, die den Herstellungsprozess des Silikongusses dokumentieren, vermittelt sich Werkstattcharakter. Geschaffen wird ein „neuer Mensch“, der nicht mehr Mensch ist, ein Wesen, so scheint es, nicht nur zwischen den Spezies, sondern auch zwischen deren unterschiedlichen, in der Zeit ablaufenden Entwicklungsstadien.
Die Anmutung eines Unterwasserwesens. Wie eine Koralle. Ein Schwamm. Ähnlich wie bei Tania Felske scheint die Anmutung von Tiefseehabitat unsere besondere Beziehung zu unserer Umwelt atmosphärisch zu unterstreichen: Eine leicht befremdliche Tiefe, die uns fern erscheint und, evolutionsgeschichtlich, doch so nah steht. Menschen als beleuchtet inszenierte Exempel oder als durchleuchtetes Gepäck ihrer Evolutionsgeschichte.

Lee und Sahm haben den menschlichen Körperbau mit einer befremdlichen haptischen Oberfläche versehen und damit eine Figur geschaffen, der wir ähneln und die uns dennoch als ein anderes gegenübersteht. Als Fischmensch, sozusagen – doch anders als popkulturell und mythologisch im kollektiven Gedächtnis verbreitete Bilder von Seejungfrauen, Wassermännern, Tritonen und Sirenen. Tatsächlich nämlich bleiben selbst oder gerade die von einer Hybridität ausgehenden Bilder von Fischmenschen, wie wir sie aus den populären Medien kennen, immer noch meist stereotyp „Fischfrauen“ und „Fischmänner“ („Fischmenschen“ ohnehin.) Trotz der Überschreitung einer Gattungsgrenze, der imaginativen Öffnung des Bloß-Menschlichen auf ein Fabelhaftes, scheint die Vorstellungskraft nicht frei vom Ruf und Bedürfnis nach „Ordnung“. Beliebte Einteilung bleibt der Oberkörper als Mensch (denn hier befinden sich ja, angenommen, Intellekt und Seele) bei fischigem Unterleib (selten verhält es sich umgekehrt).
Arielle, verfilmt mit einer Schwarzen Hauptdarstellerin, erscheint vielen Fans nicht vorstellbar. Der Wunsch nach Ähnlichkeit mit einer Originalvorlage (einer „heilen Welt“ der Kindheit) überstimmt die Chance, die bekannte Geschichte unabhängig von reinen Äußerlichkeiten zu neuem Leben zu erwecken. Und das hört bei Arielle, die laufen lernen will und sich entscheiden muss (keine Option des Dazwischens scheint in der Fantasie möglich), noch lange nicht auf. Die Manga- und Animewelt von One Piece etwa ist bevölkert von zahlreichen stereotyp im Unterschied zu den körperlich unterlegenen, doch zahlenmäßig weiterhin dominanten Menschen gezeichneten „Fischmenschen“. Die Kreaturen werden teils als Sklaven gehalten und ausgebeutet, und auch wenn sie als humanoide Säugetiere beschrieben werden und der verdinglichende Zugang der Menschenspezies zu den Fischmenschen in One Piece bereits ein Stück weit reflektiert erscheint – das gegensätzliche Begriffspaar der „Weiter-“ bzw. „Unterentwicklung“ zieht weiter seine diskriminatorischen Kreise.

Während Tania Felskes formal ästhetisierte Plastikreste wie Röntgenbilder ihr Inneres – fast schon wie eine Aufnahme des „Kerns der Zivilisation“ als Errungenschaft wie als Problem – darbieten, konzentriert sich die Darstellung bei Alexander Sahm und Ha-Nul Lee auf eine äußere Haut, eine Silikonhülle ohne wesenhaften Kern, die unterbestimmt lässt, was wir uns selbst scheinbar noch immer nicht vorstellen können: eine nicht-binäre Seinsweise der Übergänge und der Schwellen.
Beide Arbeiten leben visuell vom Farbverlauf: pastellig schimmert das „Fischwesen“, im Schwarz-Weiß verschwimmen die Schärfen und Konturen der Kunststoff-Objekte. Sie fragen danach, welche menschlichen Entwicklungen als „Errungenschaften“ gelten können und welche als „Gefahr“; zu was sie uns befähigen und befallen – oftmals beides zugleich und nicht selten über den Umweg der Verbindung mit anderen Lebewesen und Technologien; und wie der Bereich zwischen Kontamination und Befruchtung ein bewegtes Gewässer mit fließenden Grenzen darstellt. Und in diesem schwimmen (Mikro-)Plastikteile ebenso wie Träume und Erzählungen, deren offene Enden wir selbst noch aneinander- (nicht nur an uns selbst an-)knüpfen müssen.

Die Installation hängt lose im erzählungslosen Raum, als Cliffhanger im buchstäblichen Sinne. Ohne Aussicht auf Finale. Doch in der Unabschießbarkeit auf Zukunft ausgerichtet, die wir selbst, aus Ungesehenem, gestalten.


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