Gisèle Freund FOTOGRAFIE

Es gibt Fotografen, die beherrschen ihre Technik so souverän, dass sie genau wissen, welchen Kniff sie an-wenden müssen, um beim Betrachter eine ganz be-stimmte Reaktion auszulösen. Andere machen Bilder, die sind etwas „schief“. Gisèle Freund gehörte zu den letzteren. Schon bei ihrem ersten Auftragsportrait des französischen Schriftstellers und Politikers André Mal-raux mit windzerzaustem Haar (1935) konzentrierte sie sich mehr auf die Begegnung als auf formale Perfekti-on, und auch wenn dies damals an ihrer Nervosität ge-legen haben mag, behielt sie diese Einstellung stets bei. Oft wirken die Portraits so, als habe die Künstlerin eigentlich eine Situation portraitieren wollen, die Per-son ist von dem Ort, an dem sie sich gerade befindet, nicht zu trennen: Diego Rivera ist aus der Vogelper-spektive vor seinen monumentalen Wandmalereien ge-zeigt, so dass man ihn zunächst schlicht übersieht – um dann zu befürchten, der Maler würde gleich von seiner eigenen Kunst aufgesogen. Pierre Bonnard bekommt man lediglich in Rückenansicht vor einem seiner Ge-mälde zu sehen, während er gerade an diesem arbeitet.
Anschnitte, Unschärfen und ein eigensinniger Blick auf die Dinge und Menschen machen das Werk der Fotografin, die ihre Arbeiten selbst nie als Kunst sah, aus. Oft gibt es kein eindeutiges Bildzentrum, der Blick wird stattdessen von einer Einzelheit zur nächsten geführt. Ob diese Ein-zelheiten im Gesicht des Portraitierten oder in dessen Umgebung zu finden sind, ist dabei zweit-rangig. Gisèle Freund schaffte es, sich ganz auf eine Person zu konzentrieren, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, dass gerade die scheinbar nebensächlichen Details untrennbar mit deren Cha-rakter oder der Atmosphäre des Augenblicks verbunden sind.
Sogar ihre Reportagen scheinen als eine Reihe von Situations-Portraits angelegt zu sein. Doch wird hier vor allem der „Zwang, sich auszudrücken“ und damit gesellschaftskritischen Gesprächsstoff zu liefern, deutlich: in ihrer Fotoreportage über Evita Perón für das Life Magazine 1950 zeigte sie um einiges mehr, als das diktatorische Regime von sich zu geben bereit war. Dies führte zu einer diplomatischen Krise zwischen Argentinien und den USA, Gisèle Freund musste nach Mexiko ausreisen und lebte dort zwei Jahre lang mit Frida Kahlo und Diego Rivera.Als Tochter eines jüdischen Kaufmanns und Kunstsammlers wuchs Gisèle Freund im selbstver-ständlichen Umgang mit Künstlern, Literaten, Philosophen und Politikern ihrer Zeit auf. Später knüpfte sie zahlreiche Kontakte über die Verlegerin Adrienne Monnier, deren Buchhandlung im Zentrum des kulturellen Lebens in Paris stand. In diesem Umfeld begann Gisèle Freund, bekann-te Persönlichkeiten so einfühlsam wie beharrlich um „ihr Gesicht“ zu bitten, während sie sich mit ihnen über ihre Arbeit unterhielt. Diese besondere Form der Aufmerksamkeit brachte Portraitierte wie Virginia Woolf oder Marcel Duchamp dazu, nicht nur Einblicke in ihr privates Wohn- und Arbeitsumfeld zu gewähren, sondern auch „mehr von sich“ zu geben, indem sie sich in einem un-beobachteten Moment zeigten. Diese Momente immer wieder einzufangen, bedeutete für Gisèle Freund das ganze Problem mit dem Portrait. Für sie ging es darum, eben keine Abbilder der Mas-ken schaffen, die jeder ohnehin täglich zur Schau trägt, sondern mit ihrer Fotografie eine tatsäch-liche Beziehung zwischen dem Menschen auf und dem vor dem Bild herzustellen.


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