How-to hang-on and not over. Oder: Wie kuratiert man einen Cliffhanger?

Wenn Protest sich pelzig präsentiert

Am Tag, als „der Schamane“ das US-Kapitol besetzte, als einer von vielen Anhänger*innen fragwürdiger Theorien um Macht und Verschwörung, war mehr als klar geworden, dass auf den Wahlkampf eine Schlacht um Stimmgewalt – nicht zuletzt jener ihres noch-präsidialen Helden – folgte. Eine Pointe dabei ist, dass Stimmgewalt hier vor allem als Bildgewalt sich äußerte: Martialisch aufgerissene Münder, triumphale Eroberungsgesten, lauthalse Slogans auf Bannern und Baseballcaps. Michael Hübl beschreibt, wie die Bildsprachen mittelalterlich inspirierter Fantasy-Epen, etwa Game of Thrones, und antikisierender Heldendramen die öffentlich mediale und politische Inszenierung geprägt haben, und erinnert an die Rolle Wagnerianischer Motive für die ästhetische Ideologie der Nationalsozialisten. Nordisch-heroisch angehauchte Serienwelten geben heute ein Vorbild für eine Gemeinschaft, die sich nicht mehr mit der geteilten Wirklichkeit identifizieren kann und möchte.1
Doch auch ohne Verschwörungstheoretiker einer Kulturkritik „von außen“ zu unterziehen, können wir an unserer eigenen Wahrnehmung des medialen Alltags eine Grenzverwischung zwischen fiktiven Inhalten und „realer“ Politik feststellen. Die täglichen Nachrichten „aus aller Welt“ werden von vielen bereits als unendlich sich fortsetzende „postfaktische“ Serie mit (oft makabrem) Unterhaltungsfaktor konsumiert. Dass Donald Trumps präsidiale Karriere von seinem Auftreten in der Reality-Sendung The Apprentice präfiguriert wird, in der er als Firmenmogul showtaugliches Durchgreifen demonstrierte und sich damit auf drastisch konsequenzverminderter Ebene als Oberhaupt empfahl, verwundert kaum. Wenn Politik gespielt und geskriptet erscheint und Netflix die noch denkbarsten Wirklichkeitsentwürfe bereitstellt, durchmischen sich die Realitätsebenen.

Die empfundene Durchdringung realer politischer Zusammenhänge und fiktionaler Serienwelten hält Probleme und Chancen bereit – und diese haben weniger noch mit konkreten und teils problematischen Fantasy-Motiven, wie Hübl sie beschreibt, zu tun als mit ihrer spezifischen Zeitlichkeit. Die Twitter-Plattform ist voller Vergleiche des aktuellen politischen Geschehens mit populären Serien: „#Brexit ist ein bisschen so wie #TheWalkingDead. Man denkt, das Ende sei erreicht und dann kommt der immerselbe Twist und eine ganze Staffel wird noch drangehängt.“2 Maren Lickhardt schildert in ihrem Essay Leben in der Zeit der Serialität einen melodramatischen „Reset-Modus“ der medialen Wahrnehmung von Krisen und Katastrophen, in dem Alarmismus und Langeweile ineinander kippen: „Man fragt sich, wie viele Krisen, die im etymologischen Sinne ja schließlich Wende- und Entscheidungspunkte bedeuten, im laufenden Vollzug noch ernsthaft als solche erlebt werden können, wenn sich regelmäßig nachträglich herausstellt, dass sie dann doch keine gewesen sind.“3 Das Warten auf Entscheidungen, die endlos revidiert und mit neuem Anlauf, erneut (scheinbar) ohne Konsequenzen, verfehlt werden, hat gewissermaßen Serienstruktur, und selbst der Klimawandel lässt sich als „Fünf-vor-zwölf-Tatsache in eine Rhetorik umwandeln, die unendlich verschoben und wiederholt, also serialisiert werden kann.“4 Der Showdown, der zum Handeln zwingt, als endgültiges Finale, ist auf ewig ausgesetzt, weil es weitergehen muss, weil es weitergehen kann – bis es eben nicht mehr so und nicht mehr anders weitergehen kann. (Was in der Serienlogik heißt, dass man aus der nächsten Staffel herausgeschrieben werden muss, so wie etwa geschehen mit Kevin Spacey, dessen Persona und Persönlichkeit, „real“ und in der Serie im House of Cards, in eins zu klappen drohte, als er des sexuellen Missbrauchs beschuldigt wurde – was aufgrund der Skruppellosigkeit seiner Rolle als Politiker nur „schlüssig“ erschien. Die Realitäten scheinen sich wechselseitig zu bestätigen und zu intensivieren.) It’s all about Survival, und jede Folge ist sich selbst die nächste. Doch wie könnte man diese „Zeitlichkeit der Serialität“ für ein gemeinsames Denken und Handeln fruchtbar machen?

Fossiliert im Futur II?

„[V]on Spannungsbogen zu Spannungsbogen entfaltet von Staffel zu Staffel, nach der jeweils alles ganz anders und doch irgendwie gleich ist“, legt Serialität ein (problematisches) zyklisches Geschichtsverständnis nahe.5 Lickhardt scheint auf eine ähnliche Gefahr aufmerksam zu machen, wie sie Bernd Scherer im Gespräch mit Stefan Aue anspricht: dass „die Dynamisierung der Gegenwart durch Erinnerung und Imagination“ oft „durch eine Fossilisierung der Vergangenheit und eine Fiktionalisierung der Zukunft ersetzt [werde]“.6 Im Leerlauf reiner Gegenwart wird das Heute schmallippig, ohne Kontextualisierung durch seine Geschichte scheint es selbst ziemlich unwahrscheinlich zu „Geschichtsträchtigem“ werden zu können: zu etwas, das sich aktiv gestaltbar, umkämpfbar, erzählbar, transformierbar gibt. Und auf die Nachsilbe kommt es hier an – den Möglichkeitsraum, der nicht im endlosen Strom aufgetan werden kann, sondern nur im Miteinander von Perspektiven, die sich in jeweils eigenen Geschwindigkeiten verbreiten und nicht beliebig skaliert werden können.

Nun sprechen Scherer und Aue nicht über unser Dasein als Aficionados auf der Wohnzimmercouch mit dem Laptop auf dem Schoß. Vielmehr diskutieren sie die Rolle des Umgangs mit Archivmaterial für unsere Vorstellungskraft als Vermögen, das sich flexibel zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft bewegt. Könnte, der kulturkritischen Vorstellung von der „schlechten seriellen Unendlichkeit“ trotzend, das breite Angebot an (Sci-Fi-)Serien versuchsweise als eine Art Archiv betrachtet und von hier aus produktiv gemacht werden? Ist Netflix ein Archiv der Imaginationen? Eine Fiktionalisierung der Fossilien? Ein Sediment der Vorstellungskräfte? Lagert sich das Vergangene, Gewohnte wie Mikroplastik in unseren Sehnsüchten für das Kommende ab? Oder setzen sich Hoffen und Bangen als paradoxe Patina des Zukünftigen auf die Oberfläche unserer medialisierten Träume?
Netflix und Amazon Prime könnten zugespitzt als eine Grundlage dessen bezeichnet werden, was in unserem zeitgenössischen Diskurs, auch an Zukünftigem, gedacht werden kann. In Abwandlung der Foucaultschen Rede vom Archiv als „Gesetz dessen, was gesagt werden kann“, wären Streaming-Portale als ein Nachschlagewerk von mehr und auch weniger inspirierenden Visionen lesbar, das die „Bedingungen der Möglichkeit und Wirklichkeit der Vorstellungen“ prägt. Als strukturierte, selektierte Ansammlung von Daten über die Sehgewohnheiten und Unterhaltungspräferenzen einer großen Gruppe von Zuschauerinnen gehorchen Streamingportale, ebenso wie Archive, dem Primat der „Verfügbarkeit“ – die nicht zuletzt Macht für die Produzentinnen dieser Formate bedeutet, welche Metadaten für neue, zunehmend perfekter zielgruppenorientierte Produktionen verwerten.7 Die verfügende Macht bleibt jedoch ambivalent: Sie kann angeeignet werden durch uns Betrachter*innen selbst, die wir unsere Träume und Ängste „durchforstbar“ und „durchstöberbar“ vor Augen geführt bekommen und imaginativ auf Neues ausrichten können. Ähnlich wie ein Archiv selektiv eine bestimmte Weltsicht repräsentiert, einen nie neutralen Grund der Wissensproduktion bietet, dabei aber immer offen nach hinten und vorne für Ergänzungen bleibt, konfrontieren uns auch Serien wiederholt mit Stereotypen und Mustern – die jedoch ebenso, vor allem in den Überbrückungsphasen von Staffel zu Staffel, von Kritikern und Fans minutiös analysiert und zerlegt werden. Das Modell des passiv konsumierenden Zuschauers erweist sich hier als unterkomplex. Stattdessen zeigen sich Ansprüche: an Realitäts- und Zukunftsnähe, Schlüssigkeit des Überraschenden, das Muster, das sich selbst reflektiert und dennoch nicht auf der Metaebene versacken sollte – das Serienpublikum ist kritisch und hat wenig Toleranz für allzu simple Auflösungen komplex ineinander gewirkter Erzählstränge.

Avatare im post-realen Potentialis

Archive können uns helfen, Auswirkungen aus der Vergangenheit und auf die Zukunft mit der Gegenwart zu verknüpfen. Als Medien versagen sie dann, wenn sie uns zugunsten der einen von einer anderen Zeitlichkeit und Modalität des Wirklichen trennen. Dasselbe könnte man auch für Serien sagen: Sie enttäuschen, wenn sie unsere Weltsicht-Blasen lediglich zu weiten vorgeben, indem sie sie sie aufblasen. Nur wenn sie dabei riskieren und zulassen, dass die Blasen zerplatzen, kann genau dies die Voraussetzung für einen Wandel der Aggregatszustände von Wahrheiten und Wirklichkeiten bringen.
Die zweischneidige Macht der Serien wie der Archive liegt im noch Ausstehenden. Was ungesagt und ungezeigt bleibt, hat Macht und verleiht sie auch jenen, die das Verzeichnis verwalten – durch das Vornehmen von Ein- und Ausschlüssen, aber auch im Potential zur Freisetzung imaginativer und revolutionärer Zwischenräume. Die Lücke zeigt an, wo man hineingreifen kann. Im Sinne eines kommerziellen oder instrumentalisierenden Andockens an bestehende Narrative, aber auch einer Möglichkeit, Dokumente und Sichtweisen hinzuzufügen und neu zu kombinieren. Ob wir künftig Ferien in vorprogrammierten Wild-West-Parks machen oder Zombies jagen, entscheidet sich auch daran, wie viel Empathie wir in unseren Phantasien mit anderen mitbringen; ob wir planlos lossegeln, um Welten zu entdecken oder vielmehr um bloß Land zu gewinnen, wird sich an unserer Bereitschaft entscheiden, auch ein Stück von uns selbst zurückzulassen; ob die Menschheit mit plus minus tausend Waggons auf Schienen endlos um den eingefrorenen Erdball rast oder doch bald schon entgleist, hängt davon ab, wie wir zusammenarbeiten – eine Serienphantasie, die an das spekulative Szenario von Dunne & Raby erinnert. Der „Communo-nuclearist Train“ des Design-Duos ist Teil der United Micro Kingdoms (2013): spekulative Entwürfe für die Zukunft in vier laborartigen Gesellschaftsformen. Während die Gesellschaft der „Digitarians“ einem technologischen Autoritarismus der Überwachung und Hyper-Transparenz verschrieben ist, stoppen die „Anarcho-evolutionists“ technologische Entwicklung und setzen auf optimiertes Körpertraining zum Überleben der Menschheit; während die „Bioliberals“ Garten- und Ackerbau betreiben, bevölkert die „Communo-nuclearist society“ einen drei Kilometer langen landschaftsartigen Zug und nutzt Kernenergie, um „am Laufen zu bleiben“ – zumindest bis zum fatalen Anschlag oder Überfall.8 The Engine is not eternal.

Spekulatives Design, Science-Fiction oder generell: fiktive Serien – denn, wie oben angedeutet, lassen sich Fantasy und Politik nicht trennscharf voneinander halten – sowie ein zukunftsoffener, auch künstlerischer Umgang mit Archivmaterial lassen unsere Sinne aus der linearen Wahrnehmung dessen, „was gedacht werden kann“, kippen. Sie geben selbst einen Rahmen vor, den sie uns zugleich auffordern, gedanklich zu sprengen. Versteht man das Archiv als Auswahl und Anordnung von Materialien, die eine Machtstruktur auf Grundlage eines als „gegeben“ und „gewesen“ Dokumentierten repräsentieren – die sich aber zugleich anbietet, alternativ strukturiert zu werden –, so könnte man dem einschlägigen Streaming-Angebot an Science-Fiction-Serien eine ähnliche Qualität zusprechen. Serien befeuern Diskurse, schaffen Rahmen zur Überschreitung ihres eigenen narrativen Horizonts und machen – wenn es gute Serien sind – die großen gesellschaftlichen Themen, Fragen nach Ethik und Moral, nach Wahrheit und Lüge so konsumierbar wie auch angreifbar, indem sie permanent zwischen der Erfüllung von Mustern und dem Bruch, dem Twist, dem erwartet Unerwarteten changieren. Um kollektiv die Gegenwart und Zukunft zu gestalten, braucht es Austausch über Sehgewohnheiten und Zeigeregime. Innovation wird nicht zuletzt möglich durch den Abgleich der Gegebenheiten und Erfordernisse der Gegenwart mit dem, was bereits etabliert, archiviert und abgelegt in Dokumenten – auch Serien als Dokumenten unserer kollektiven Psyche – ist.9

Cliffhanger und Realitätsraffer

Zwischen Folgen und Staffeln liegt die Sollbruchstelle, an der Träume – aber auch Konventionen – zerplatzen können: der sogenannte „Cliffhanger“. Fortsetzung ist potentiell immer möglich, in einer unerwarteten neuen Staffel, in einem Sequel, in einer Auskopplung, die Seitenstränge der Handlung ausarbeitet, etwa weil bestimmte Figuren sich als Publikumslieblinge erwiesen haben. Ob die Produktion, die folgt, eine Vor- oder Nachgeschichte erzählt, ist dabei offen. Ein Cliffhanger hinterfragt oder revidiert Teile des Geschehenen und öffnet dieses auf ein Unbekanntes. Bis dieses sich in Klarheit und Gewissheit wenden kann, vergehen manchmal Monate bis Jahre bis zur nächsten Staffel. Was aber, wenn es keine Fortsetzung gibt? Und auch kein Ende? Sondern wenn die Geschichte, statt abgeschlossen, „rund“ zu werden, einfach hängt? Ein Cliffhanger trennt den Faden, den man eben noch vernäht geglaubt hat, wieder auf. Und zwar nicht im Sinne eines gleichmäßig zyklischen Kommens und Gehens der Erzählmotive, sondern schlagartig, unerwartet. Es ist der Moment, in dem die Chance besteht, die Seiten zu wechseln – von der auf Wirklichkeit bezogenen Fiktion zur fiktional angereicherten Wirklichkeit, für die es eine Zukunft zu schaffen gilt. Was nach dem Cliffhanger als ungewiss aussteht und in der Serie vielleicht nie verwirklicht wird – zumindest nicht so, wie man es selbst in der Vorstellung entwirft –, hat das Potential, von der Erzählung losgelöst und abgetrennt real zu werden.
Die Lücken und Cliffhanger eines Archivs der kollektiven Träume und Befürchtungen wären wohl so etwas wie es Jacques Derrida mit dem „Archiv des Virtuellen“, das Intentionen und Triebe zu einer eigenen Realität aufzeichnet, der Vorstellung entgegensetzt, ein Archiv sei stets „als Stätte eines Wissens konzipiert, das darauf wartet, aktualisiert zu werden. Im Gegenteil, dieses Archiv soll das Noch-Nicht verwahren, das Zukünftige, das, was kommt (aber was man nicht kommen sieht) und ‚als solches nicht wissbar ist‘“, wie Tom Holert zusammenfasst.10 Archive „steuern und verwalten eine Realität, der sie vorausgehen“, sie sind, so formuliert es Knut Ebeling, „Realitätsraffer“11 nicht nur im temporalen, sondern auch im modalen Sinne. Was denkbar erscheint, kann möglich gemacht werden, und hat insofern bereits eine eigene Wirklichkeit.

Auch Kunst und Design können zu Cliffhangern und Realitätsraffern werden, wenn sie unser Verhältnis zur Wirklichkeit herausfordern. Wenn sie eine Haltung und Stellungnahme darüber einfordern, wie realitätsnah oder -fern wir ein Szenario und die sich aus diesem weiterentwickelten Gedanken uns erscheinen. Wenn etwas abgebrochen erscheint und wir uns fragen, weshalb es das tut (vielleicht genau darum, weil abgebrochene Handlung am besten im Gedächtnis bleibt). Ein Cliffhanger lenkt von sich aus auf das, was „weiter noch geschehen wird“, also auf etwas anderes, das ihn selbst übersteigt. Ein Kunstwerk oder ein Designentwurf, das bzw. der als Cliffhanger fungiert, darf also davor nicht zurückschrecken, etwa aus Angst vor Verlust an Aufmerksamkeit. In gewisser Weise sind solche Cliffhanger das Gegenteil dessen, was zu Beginn dieses Textes als „lauthalse Bildgewalt“ medialer Inszenierung angeführt wurde. Der Cliffhanger – wie wir ihn uns hier versuchsweise als künstlerisches, gestalterisches und kuratorisches Kommunikationsmedium vorstellen wollen – versucht, Stimmen anzuregen, aufzufangen und weiterzugeben in der Diskussion, die sich an ihm entzündet. Über den reinen Effekt hinausgehend, ist er bereit, sich selbst fragil zu zeigen, statt den Mund weit für das Foto und für die Ewigkeit im Orkus der Sozialen Medien aufzureißen.


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