In Stanya Kahns „Don’t Go Back To Sleep“ und Benjamin Nuels „Hotel“ (beide 2014) verarbeiten VertreterInnen spezifischer Berufsgruppen das Ende ihrer bekannten Welt. Es umgibt sie kulissenhafte Architektur: Bei Kahn eine aufgrund der Wirtschaftskrise nie fertiggestellte, unbewohnte Neubausiedlung in Missouri, bei Nuel ein verlassenes Hotel in modellierter Computerspielumgebung. Soldaten und Terroristen, jeweils als optisch identische Avatare uniformiert, warten im „Hotel“ gemeinsam auf ihre Kommandos und beginnen sich, zwischen Volleyballmatches, Kunsttherapie und dem Austausch von Auflaufrezepten, langsam vom erlernten Freund-Feind-Bild zu entwöhnen. Beim Erkunden des idyllischen Umlands stoßen sie vermehrt auf treibsandartige Auflösungen ihrer Umwelt, auf rechteckige Löcher im Himmel und im Erdboden. „Don’t Go Back To Sleep“ zeigt ÄrztInnen und PflegerInnen, gespielt von Laiendarstellern, beim Versuch, stetig neue, aus den eigenen Reihen plötzlich zusammenbrechende Verletzte zu versorgen. Badewannen und Billardtische werden auf Tauglichkeit als medizinisches Mobiliar hin inspiziert. Was die Verwundungen verursacht, bleibt unklar. Die Überforderung kapituliert in Partystimmung, aufgelockert durch den Schnaps, der parallel zum Betäuben der OP-Patienten dient. Im Zentrum beider Produktionen stehen Dialoge unter Fremden, die in Ausnahmesituationen der Isolation eine gemeinsame Mission zu erfüllen haben. Die Kontaktaufnahme zu einer Außenwelt läuft jedoch schleppend.
Die Körpersprache bleibt davon nicht unberührt. Kleine Gesten zwischen Routine und Improvisation zeugen in Kahns Video von der Sorge der Behandelnden füreinander, Haare werden zurückgestrichen, Brote geschmiert, doch ist das Personal körperlich mehr als gefordert, die Verstorbenen in Laken nach draußen auf das Feld zu bringen. Auch Nuels Kämpfer, die routiniert ein Ehrenbegräbnis für ihren „aus Langeweile“ erschossenen Kameraden veranstalten, strahlen Hilflosigkeit aus: Ihre Bewegungen wirken überzogen militärisch fehl am Platz. Das reduzierte Körpersprach-Vokabular des Computerspiels lässt die Figuren permanent abrupt aus dem Stand nach da und dort springen, wie bei einer Leibesübung. Erlernte (Be-)Handlungs- und Bewegungsmuster entfalten einen Überschuss an Kraft und Präpariertheit, die gar nicht effektiv zur Anwendung kommen kann und daher im Ästhetischen operiert.
Die Zeiterfahrung des Kranken, heißt es in Thomas Manns „Der Zauberberg“, gleicht einer „stehenden Ewigkeit“, da jeder Tag als identischer sich wiederhole. Wie aber erfahren Ärzte und Pflegepersonal ihre Zeit? Schicht- und Bereitschaftsdienste, geteilte Arbeitszeiten am Morgen und am Abend verlangen ständigen Wechsel von Anspannung und Regeneration. Während Mann dem Kranken einen Rhythmus des gleichmäßig Andauernden zuordnet, scheint Pflege von nervöser Unvorhersehbarkeit und ständiger Gefahr der Zeitverschwendung durch mangelhafte Koordination gekennzeichnet, die in kardiogrammähnlich ausschlagender Verlaufskurve ebenso auf Dauer gestellt ist.
Diese Alarmbereitschaft spiegelt sich in „Don’t Go Back To Sleep“ in einer stetig den Fokus verlierenden Kameraführung, das Sounddesign pendelt zwischen sphärischen Klängen und treibender Spielmannszugmusik. Halb geskriptet, halb improvisiert, mutet das Video wie surreales Reality-TV an. Dies verstärkt sich durch teils akustisch schwer verständliche Dialoge, die in den leeren Neubauten widerhallen – etwa wenn die Akteure in mehreren parallel geführten Telefonaten mit in Verzug geratenen Lieferanten von medizinischem Zubehör verhandeln. Auch in „Hotel“ ist die Sprache verfremdet. Kommuniziert wird über kratzenden Helmfunk oder mit stark osteuropäischem Akzent. Während die Gesichter der über-standardisierten Figuren hinter Visieren und Sturmmasken verborgen bleiben, spielt „Don’t Go Back To Sleep“ mit dem Anschein von Individualisierungüber bunt bedruckte Hauben: mit Bierkrug- oder Raubkatzen-Dessin, Delfin-Muster oder Motivationssprüchen im Rapport. Nicht nur die Kopfbedeckungen, auch die Schuhe signalisieren Wehrhaftigkeit der Armeestiefel bzw. Infektionsschutz durch klinische Überziehschuhe, doch zeigen sie sich beim Freizeitsport oder Kuchenessen funktionslos.
Auch wenn ein US-amerikanischer Kontext – Kahns Arbeit ist durchaus als Kritik am Abbau des Gesundheits- und Sozialsystems unter Trump zu lesen – bzw. eine Konfrontation der Weltmächte USA und Russland, bei Nuel repräsentiert durch ihre stereotyp gezeichneten Soldaten, anklingt, herrscht Ortlosigkeit. Anonyme Fassaden- und Innenarchitektur sowie auswechselbare Oberflächentexturen bestimmen die filmischen Umgebungen. Die Logik des Innen und Außen bestimmt den Raum, wobei „das Außen“ unkonturiert bleibt und „innen“ die Identitäten verwischen: Der Wegfall von Hierarchien – im Nicht-Reagieren der Einsatzleitung – und Dichotomien – der Trennung in „die Guten“ und „die Bösen“, in „Ärzte“ und „Patienten“ – führt zu Überforderung, eröffnet aber auch andere Wege des Zeitvertreibs, eines offeneren Miteinanders und Selbstverständnisses, nicht als EmpfängerIn von Anweisungen, sondern konkret interagierend, eigenständig und prekär.
Bald stellt sich heraus, dass alle Soldaten dieselben „seriellen“ Kindheitserinnerungen teilen, obwohl sie offensichtlich in keiner Verwandtschaftsverhältnis zueinander stehen. Was erst zu tätlichen Auseinandersetzungen über ideelle Eigentumsverhältnisse zu führen droht – „it was my dad who […] –, schafft bald Vertrautheit und Freude über die gemeinsame Verständigungsebene. In „Don’t Go Back To Sleep“ entfalten sich Gespräche um Pflanzenzucht und Ackerbau, invasive Arten auf ausgezehrten Böden, Vertrauen und Misstrauen in Beziehungen, vor allem zwischen Mutter und Kind. Gesellschaftspolitische, politisierende Themen wechseln sich ab mit Gesprächen über Außerirdische und Übersinnliches.
Tatsächlich steht die Atmosphäre geradezu im Zeichen des Paranormalen. Anders als beim surrealistischen Ansatz, das Wunderbare im Wirklichen heraufzubeschwören, fokussiert eine Beschäftigung mit paranormalen Aktivitäten die unerklärlichen Ursachen eines Effekts in der wahrnehmbaren Welt, eine Kausalität, die sich nicht erschließt, und der es dennoch versuchsweise nachzugehen gilt, in Anerkennung der Existenz einer Welt außerhalb des eigenen Systems. Die Rolle der höflichen Henne, die ausschließlich französisch spricht, in „Hotel“ zu erklären, wäre wohl genauso wenig erfolgversprechend, wie diejenige des Mountainbikers im Bärenkostüm in „Don’t Go Back To Sleep“. Und doch erscheint die Beschäftigung mit dem „Why?“ – auch die Soldaten stellen sich mehrfach diese Frage – für die Rezeption zentral.
Warum erscheinen mysteriöse Tier-Mensch-Hybride bei Kahn und Nuel als einzig selbstbestimmte Wesen? Warum mögen manche Menschen keine Milch, lieben aber Käse? Warum schmecken Maiskolben besser, wenn man sie auf der Ladefläche eines Pickups sitzend an milden Sommerabenden isst? Warum überwachen wir leere Räume? Warum schlafen wir mit offenen Augen? Warum leuchten die Blüten dieses Strauchs so unnatürlich intensiv Magenta?
So manches wird sich nicht erklären, doch die Suche nach Gründen kann den Sinnesradius erweitern und „das Außen“ weniger unberührbar werden lassen. Menschen tragen selbst zur Verbreitung scheinbarer Unerklärlichkeiten bei, durch Importe und Exporte, durch Züchtungen, Formen der Bewirtschaftung von Land, von Körpern, Geisteshaltungen und Erinnerungen. Sie könne diesen auch etwas entgegensetzen, sobald sie sich ihrer aktiven Rolle bewusst werden. So scheint es nur naheliegend, wenn sowohl Kahn als auch Nuel ihre Protagonisten in Zuständen der Dämmerung bzw. den schwarzen Weiten einer Art von Thingiverse zurücklassen. Die Soldaten nehmen Masken und Helme ab, blicken fasziniert in das Meer aus um sie treibenden 3D-modellierten Dummy-Objekten, potentiellen Ausstattungsgegenständen einer (ihrer?) „neuen“ Welt. Kahns Film endet mit einem die Betrachtenden adressierenden Abspann vor einem Sonnenuntergang. „I could speed it up“, schreibt die Künstlerin. Wenn es schneller dunkelt, fragt man sich, wird es dann auch eher wieder hell?